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18th-century research in dialogue

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Zur Konjunktur des Irrationalen

Einige fragmentarische Gedanken, auch aus Anlass der Vortragsreihe
Globaler Antisemitismus und die Dialektik der Aufklärung am IZEA

Seit einigen Jahren erleben wir in der westlichen Welt mit einer gewissen Rat- oder Fassungslosigkeit, dass die insbesondere durch die Demokratisierung des Internet gestiegenen Kommunikationsfähigkeiten aller Bürger nicht (oder jedenfalls nicht immer) dazu führt, dass die in der Öffentlichkeit geführten Debatten vernunftgeleitet sind. Sogenannte populistische Bewegungen und Verschwörungstheorien finden immer mehr Anhänger, und die Idee, dass eine wie auch immer organisierte kleine Weltelite das Volk und die Öffentlichkeit zu hintergehen sucht, ist weit verbreitet. Der ‘Feind’, das sind in den Augen dieser Verschwörungstheoretiker einige Akteure, deren Bezug zur ‘normalen’ Bevölkerung schwer greifbar ist und die deshalb als diffuse Gruppe heimatloser Gesellen dargestellt werden, nicht selten übrigens mit einem dezidiert antisemitischen Unterton: George Soros, Bill Gates und ihm nahestehende Personen, oder aber ‘Davos’, die sogenannte Bilderberg-Gruppe, der IWF, die Weltgesundheitsorganisation oder andere supranationale Institutionen.
Auslöser des oftmals recht plötzlich sich manifestierenden gesellschaftlichen Unbehagens, das sich zumeist sowohl gegen die Regierung als auch gegen die Medien wendet, sowie gegen andere Gruppen, die im öffentlichen Raum gut aufgestellt sind und Zugang zu den Medien haben, sind „Flüchtlingskrisen“ (oder ganz allgemein die Probleme, die Europa und Nordamerika mit der Aufnahme und Integration von Migranten haben) oder – wie derzeit – eine alle Länder erfassende Pandemie, die zur Verunsicherung von weiten Teilen der Gesellschaft führt.

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In der Zeit der Aufklärung hatte man den ‘Obskurantismus’ und die Vorherrschaft der ‘Vorurteile’ mit der mangelnden Bildung des ‘Volkes’ in Verbindung gesetzt, das in seiner Unmündigkeit nicht zur rationalen Prüfung der ihm angebotenen Erklärungen des Weltlaufs fähig sei. Durch eine Verallgemeinerung und Demokratisierung der Bildung würde aber, so die optimistische Grundidee, das Reich des Vorurteils zurückgedrängt werden können. Es ist dieser optimistische Grundgedanke, der derzeit vor unseren Augen zu wanken scheint. Die Demokratisierung der Bildung und diejenige der Ausdrucksmöglichkeiten führt nicht zu einer Schwächung von offensichtlich weit hergeholten, irrationalen Theorien. Dadurch, dass das Irrationale der öffentlichen Debatte zugeführt wird, wird es leider nicht entkräftet und als falsch entlarvt – im Gegenteil scheint das, was die Aufklärer das Vorurteil nannten, gewissermaßen an Dynamik und Durchschlagskraft zu gewinnen.

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Diese Entwicklung stützt sich auf einen anderen zentralen Begriff der Aufklärung, auf den Begriff der Kritik. Die kritische Prüfung der Fakten sollte es dem aufgeklärten Geist ermöglichen, hinter der Oberfläche der gesellschaftlichen Strukturen und der Phänomene den wahren Kern der Sache aufzudecken: der kritische Blick entdeckte z. B. in der Politik dieser oder jener Staaten die interessegeleiteten Bestrebungen eines Monarchen bzw. des kleinen Kreises seiner Berater oder anderer Gruppen und Grüppchen, die das Ohr des Königs besaßen. Eine solche Politik konnte vor der in Entstehung begriffenen öffentlichen Meinung angeprangert werden, indem man die wahren Intentionen der Staatenlenker oder der sie stützenden Kreise als (offen oder verdeckt) unmoralisch aufdecken konnte. Das Entlarven des Falschen würde, so dachte man, dieses Falsche sogleich zum Einsturz bringen oder zum Rückzug zwingen. Eine Korrektur der schlechten Politik würde sich mithin fast von alleine vollziehen.

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Viele Populisten und diejenigen, die Verschwörungstheorien in die Welt setzen, arbeiten im Grunde genommen nach demselben Prinzip, indem sie unter der Oberfläche des Weltgeschehens die obskuren Machenschaften einer mehr oder weniger überschaubaren Gruppe von Personen aufzudecken suchen. Auch hier wird also in einer kritischen Intention die Oberfläche als Fassade interpretiert – als ein Zeichensystem, das befragt, hinterfragt, interpretiert werden muss. Die Fakten sind in dieser Perspektive mehr als das, was sie zu sein vorgeben: es gibt nichts Eindeutiges mehr, sondern stets nur Phänomene, die etwas anderes verdecken, d.h. einen anderen Sinn besitzen als der gemeinhin angenommene. Der Verschwörungstheoretiker ist ein Hermeneut, der sich nicht zufrieden gibt mit der einfachen (oberflächlichen) Deutung eines jeden Zeichens, sondern auf der Suche ist nach seiner zweiten oder tieferen Bedeutung.
Der Verschwörungstheoretiker weiß: Es gibt die obskuren, aber sehr schlau agierenden Mächte des Bösen, welche versuchen, uns (wie man sagt) „hinters Licht zu führen“ und das Falsche als das Echte zu verkaufen. Der Diskurs des Mainstreams ist in seinen Augen nur der Überbau – das Darunterliegende (die wahren Intentionen der Akteure) muss deshalb offengelegt werden. Dieser skeptische Ansatz führt dann auch dazu, dass die Anhänger der Verschwörungstheorien die ‘anderen’ der Naivität überführen zu können glauben (die ‘anderen’ sind so ‘leichtgläubig‘, dem offiziellen Mainstream-Diskurs unhinterfragt zu vertrauen). In ihrem eigenen Verständnis sind also sie die wahren ‘Aufklärer’ der Gegenwart: sie handeln so, wie die Aufklärer in ihrem Kampf gegen das Vorurteil handelten. Wer also den Anhängern von Verschwörungstheorien Irrationalismus vorwirft, erntet von ihnen nur verständnislose Blicke. In der Tat zeichnen sich ihre Erklärmuster nicht eigentlich durch einen Mangel an Rationalismus aus, sondern durch einen Überschuss desselben. Wie der Paranoiker glaubt auch der Verschwörungsfanatiker nicht an den Zufall; für alles gibt es Erklärungen. Es sind die ‚anderen‘, die (so seine Überzeugung) die Zusammenhänge, die der eigene kritische Geist aufdeckt, nicht erkennen wollen: die vermeintlich Vernünftigen sind recht eigentlich ‚unaufgeklärt‘.

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Gleichzeitig wird dieser kritische Impetus mit einer quasi religiösen Inbrunst ausgeführt, weil es hier ja ums Ganze geht – oder besser gesagt, weil die Personen und Institutionen, die bloßgestellt und von ihrem Sockel gestoßen werden sollen, Handlanger oder gar Vertreter des (wie in dem Bild des deep state besonders schön abzulesen) im Verborgenen agierenden Bösen sind. In seinen Augen nimmt es der Anhänger von Verschwörungstheorien nicht mit einem unbedeutenden Irrtum auf, sondern mit einer vom ‘Bösen’ ausgeheckten, d.h. im wahrsten Sinne des Wortes teuflischen Strategie der Vergiftung unserer Welt.

Dies mag die Schwierigkeiten erklären, mit denen diejenigen konfrontiert sind, die die populistischen und verschwörungstheoretischen Bewegungen bekämpfen wollen.


Christian Helmreich, 27. November 2020

 

Bildnachweis:

Präambel der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika (1787) [Ausschnitt], National Archives Museums, Washington, D.C. (https://www.archives.gov/founding-docs/constitution).