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18th-century research in dialogue

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Aufklärungsforschung am IZEA

Interdisziplinarität in Zeiten des Umbruchs

Institutionell verankert an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, widmet sich das IZEA der interdisziplinären Aufklärungsforschung.

Die Etablierung des Zentrums nahm ihren Anfang in der Vorwendezeit mit den Bemühungen von Paul Raabe, dem damaligen Direktor der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, und Ulrich Ricken, Professor für Romanistik an der Universität Halle, eine gesamtdeutsche Forschungsstätte Europäische Aufklärung mit Sitz in den Franckeschen Stiftungen zu gründen – was dank der VolkswagenStiftung und des Durchsetzungswillens der Beteiligten im Jahr 1990 gelang. Drei Jahre später wurde die Forschungsstätte als Interdisziplinäres Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA) neukonstituiert.

Seitdem bringt das IZEA die unterschiedlichen Perspektiven und Methoden von FachvertreterInnen aus diversen geisteswissenschaftlichen Disziplinen wie den Neuphilologien, der Philosophie und Geschichte, der Theologie, der Judaistik und den Religionswissenschaften, der Musikwissenschaft und der historischen Erziehungswissenschaft zusammen.

Der Bibliothekssaal vor und nach der Sanierung

In den beiden ersten drittmittelfinanzierten Forschungsprojekten widmeten sich interdisziplinäre ForscherInnenteams zwei zentralen Themen: der Selbstaufklärung der Aufklärung. Individual-, Gesellschafts- und Menschheitsentwürfe in der anthropologischen Wende der Spätaufklärung (DFG-FOR 317, 1998-2006) und der Aufklärung im Bezugsfeld neuzeitlicher Esoterik (DFG-FOR 529, 2004-2012). In dezidiert interdisziplinärer Perspektive hinterfragte das erstgenannte Verbundprojekt etablierte Periodisierungsschemata mit Blick auf disziplinär zentrale Konzepte (Individuum vs. Menschheit, Utopie vs. Sozietät und Darstellungsformen in Philosophie und Literatur) und arbeitete nuanciertere Darstellungsmittel für die Genese anthropologischer Ordnungssysteme in der Frühaufklärung heraus.

Das zweitgenannte Verbundprojekt untersuchte das in der Regel kontrastiv gedachte Verhältnis von Aufklärung und Esoterik, also das sogenannte ‚dunkle Andere‘ der Aufklärung, und stellte die vermeintliche Opposition zwischen diesen zwei Polen auf den Prüfstand.

Auch die in den beiden Verbundprojekten erarbeiteten Forschungsergebnisse fanden einen ‚Ort‘ in der 1995 gegründeten Reihe Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, die im Verlag De Gruyter erscheint. Gemeinsam mit den Kleinen Schriften des IZEA, die den Fokus stärker auf die Abbildung aktueller Forschungsdebatten legen, reflektiert die mittlerweile fast 70 Bände umfassende Reihe die Arbeit der mit dem IZEA verbundenen AufklärungsforscherInnen zu Schwerpunktthemen wie Naturrecht, Ästhetik, Kantischer Philosophie, Geschichtsdiskurs, Wissensgeschichte und Gelehrtenkultur ebenso wie Gegenwartsbedeutung und -deutung der Aufklärung.

Band 65 der Halleschen Beiträge (erschienen 2021)

Ausgehend von der Feststellung der im europäischen 18. Jahrhundert zunehmenden, vielgestaltigen Brüchigkeit überlieferter Systeme des Wissens, des Glaubens und des Handelns, erforschen auch die aktuell am IZEA verorteten Projekte die Spielräume, die solche Brüche eröffneten. Die Projekte befassen sich mit der Aufklärung in der ganzen Bandbreite ihrer vielschichtigen Bedeutung als Epoche und als Begriff in globalem und internationalem sowie in nationalem und regionalem Kontext. Dabei bleiben die Leistungen und Probleme der historischen Aufklärungsbewegung aktuell und fungieren als Reflexionsfolie für das komplexe Gebilde der sich im 18. Jahrhundert formierenden westlichen Moderne.

Vier Arbeitsbereiche bereichern die Forschungsaktivitäten des IZEA und unterstreichen die Bedeutung der durch sie bearbeiteten Themen. Die von Elisabeth Décultot vertretene Alexander von Humboldt Professur der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg betrachtet die schriftlichen und bildlichen Erzeugnisse der frühneuzeitlichen Schriftkultur in internationaler Perspektive. Das von Heiner Klemme geleitete Immanuel-Kant-Forum bietet einen institutionellen und ideellen Rahmen für die interkulturelle und interdisziplinäre Erforschung der Philosophie Kants. Die Dessau-Wörlitz-Kommission (DWK) widmet sich der Untersuchung des Gartenreichs Dessau-Wörlitz in der Aufklärungszeit. Und der durch Frank Grunert mitbegründete und am IZEA und am Max Weber Kolleg der Universität Erfurt institutionell verankerte europäische Forschungsverbund „Natural Law 1625-1850“ untersucht das mit Hugo Grotius entstandene und in einem Komplex von Moral, Theologie, Politik und Zivilrecht stehende ‚neue‘ Naturrecht.

Die Aktivitäten des IZEA haben zur Erforschung des 18. Jahrhunderts in seiner gesamten thematischen Breite beigetragen. Mit dem 2015 erschienenen Handbuch Europäische Aufklärung präsentierte Heinz Thoma erstmalig ein deutschsprachiges und interdisziplinär angelegtes Nachschlagewerk, in dem in fünfzig Artikeln zentrale im 18. Jahrhundert debattierte Themen und Konzepte – von Grundwerten über Themen wie Bildung und Anthropologie bis hin zu politischen und kulturellen Aspekten – problematisiert werden. Im Rahmen des von Elisabeth Décultot geleiteten Projekts zur Gelehrtenkultur an der Universität Halle entstand der Weltensammeln. Johann Reinhold Forster und Georg Forster, der sich den Sammlungspraktiken der beiden Gelehrten widmete. Zusätzlich zu den regelmäßigen Veranstaltungen des Natural Law-Verbunds und der von diesem gegründeten Reihe Early Modern Natural Law. Studies and Sources (hier unlängst z.B. Simone Zurbuchens The Law of Nations and Natural Law 1625-1800) arbeiten die beteiligten ForscherInnen stetig an der Erweiterung ihrer kollaborativen Datenbank, die biographische und bibliographische Daten zu frühneuzeitlichen Naturrechtlern innerhalb und außerhalb Europas frei zugänglich macht.

Einige der am IZEA erschienenen Editionen

Ein weiteres Kernanliegen des IZEA besteht in der Aufarbeitung und Aufbereitung von Quellenmaterialien, die die Zusammenhänge, die Arbeits- und Handlungsweisen und die Ideen der Aufklärungsbewegung in zentraler Weise reflektieren und die für deren Verständnis unabdingbar sind. Einen Schwerpunkt bilden die in der Regel von Drittmittelgebern geförderten Editionsprojekte der Schriften von zentralen Persönlichkeiten, deren Erschließung für die Erforschung der Ästhetik-, Literatur-, Philosophie-, Wissenschafts- wie auch der Universitätsgeschichte der Aufklärungszeit von großer Bedeutung ist. Zu den abgeschlossenen Projekten gehören die Erschließung des Verlagsarchivs der halleschen Druckerei, Verlags- und Buchhandelsfirma Gebauer-Schwetschke, einem der angesehensten deutschen Verlage des 18. und 19. Jahrhunderts, und des für die Entwicklung der zeitgenössischen Philosophie zentralen Briefwechsels des Philosophen Christian Wolff mit dem Politiker und Mäzen Ernst Christoph von Manteuffel. Laufende Projekte befassen sich beispielsweise mit der Edition der Schriften des für seine Kunsttheorie bekannten Intellektuellen Johann Georg Sulzer und der Korrespondenz des für die Formierung der deutschen Aufklärung zentralen Philosophen Christian Thomasius.

Dem historischen Vorbild der Aufklärungsnetzwerke verpflichtet, basiert die Forschung am IZEA auf dem wissenschaftlichen Austausch. Dementsprechend sucht das IZEA stets, die Perspektivenvielfalt zusätzlich durch internationale, nationale und regionale Forschungskooperationen zu erweitern. Auf regionaler bzw. lokaler Ebene ist das IZEA sowohl mit Forschungseinrichtungen der MLU vernetzt, wie beispielsweise dem Interdisziplinären Zentrum für Pietismusforschung, als auch mit Institutionen, deren Geschichte im langen 18. Jahrhundert beginnt und die sich bis heute mit der Erforschung der Aufklärung befassen, wie den Franckeschen Stiftungen, der Deutschen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und dem Christian-Wolff-Haus. Auf nationaler und internationaler Ebene bestehen enge Kontakte zu zahlreichen Universitäten, Akademien, Forschungsverbünden, Fachverbänden sowie Museen, Bibliotheken und Archiven. Herausgehoben seien hier die Deutsche Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts (DGEJ), das Gleimhaus Halberstadt und das Forschungszentrum Gotha sowie die International Society for Eighteenth-Century Studies, die Voltaire Foundation (Oxford), die Sorbonne (Paris) und die Akademia Kantiana (St. Petersburg).

Netzwerken im Sinne des Brückenbauens – dies inspiriert auch das Programm des IZEA zur  Förderung der Aufklärungsforschung. Derzeit finanzieren die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur und die Dr. phil. Fritz Wiedemann-Stiftung Stipendienprogramme, die jungen, aber auch etablierten WissenschaftlerInnen einen Forschungsaufenthalt am IZEA ermöglichen.  2021 hat zudem die Gerda Henkel Stiftung ihre Unterstützung eines Programms zugesagt, mit dem insbesondere die wissens- und wissenschaftsgeschichtliche Forschung gefördert werden soll. Mit den beiden Wissenschaftspreisen, dem Förderpreis für junge Aufklärungsforschung und dem Chodowiecki-Preis, prämiert das IZEA unterschiedliche Formate der Wissenschaftskommunikation, nämlich ein Konzept zur Durchführung eines wissenschaftlichen Workshops sowie eine wissenschaftliche Publikation mit einem herausragendem Beitrag zur Aufklärungsforschung.

Poster zur Veranstaltung „Wolffs Chinesen. Christian Wolffs Rektoratsrede nach 300 Jahren“, 2021
Poster zur Halle Lecture mit Philippe Büttgen, Paris, Juni 2022

Die Stipendiatinnen und Stipendiaten sind eingebunden in das Veranstaltungsprogramm des IZEA. Von den Veranstaltungen zur Diskussion der Stipendiatenprojekte über die zweimal jährlich stattfindenden Vortragsreihen bis hin zu Workshops und Tagungen – sie finden reichhaltige wissenschaftliche Anregungen aus der ganzen Bandbreite der geisteswissenschaftlichen Aufklärungsforschung. In den „Halle Lectures“, einer gemeinsam mit den Franckeschen Stiftungen, dem Interdisziplinären Zentrum für Pietismusforschung der MLU, der Alexander von Humboldt-Professur, dem Landesforschungsschwerpunkt „Aufklärung–Religion–Wissen“ sowie dem IZEA organisierte Vortragsreihe, setzen sich renommierte internationale AufklärungsforscherInnen mit der aktuellen Bedeutung der Aufklärung auseinander.

Dreißig Jahre nach seiner Gründung begleitet – und hinterfragt – das IZEA wie zu seinen Anfängen gesellschaftliche Umbrüche. Während dies zu Beginn seiner Wirkungszeit vor allem durch die politische Wende geprägte Veränderungen waren, greift die am IZEA durchgeführte Forschung heute gesamtgesellschaftlich und international geführte Debatten auf, z.B. zum Rassismus und zum Klimawandel. Dies geschieht damals wie heute in der Überzeugung, dass die Überwindung von Grenzen – sei es zwischen Individuen, Disziplinen oder Nationen – nur gemeinsam in der Auseinandersetzung und im Dialog gelingen kann.

Elisabeth Décultot und Theresa Schön