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Moses Mendelssohn und die nachkantische Philosophie

Nach wie vor vertreten viele Philosophiehistoriker*innen den Standpunkt, Mendelssohn sei für die nachkantische Philosophie bedeutungslos. Doch trifft das wirklich zu? Ist Mendelssohn für die nachkantische Philosophie ohne Bedeutung? Ein Blick in die Rezeption von Mendelssohns Werk zeigt, dass dies nicht so ist.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde die Aufklärung in Deutschland von zwei Philosophen maßgeblich geprägt, die einerseits große Wertschätzung füreinander hegten und sich andererseits in ihren Werken kritisch miteinander auseinandersetzten: Moses Mendelssohn und Immanuel Kant. Mendelssohn zählte für Kant zu den Genies, denen es vorbehalten ist, in der Metaphysik „eine neue Epoche zu machen“ (Brief von Kant an Mendelssohn vom 8. April 1766). Kant war für Mendelssohn „alles zermalmend“ und er hoffte, Kant möge „mit demselben Geiste“ die spekulative Philosophie „wieder aufbauen […], mit dem er niedergerissen hat.“ (Mendelssohn, „Morgenstunden“, 91, 93) Dabei war Mendelssohn in der Philosophie bis ca. Anfang der 1780er Jahre weitaus erfolgreicher als Kant. Mendelssohn gewann mit seiner „Abhandlung über die Evidenz in Metaphysischen Wissenschaften“ (1764) den auf das Jahr 1763 ausgesetzten Preis der Berliner Akademie der Wissenschaften vor Kant, der mit seiner „Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral“ den zweiten Preis zugesprochen bekam. Mit seinem „Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele“, der erstmalig 1767 erschien und in verschiedene Sprachen übersetzt wurde, feierte Mendelssohn einen weiteren Erfolg. Obgleich auch Kant bedeutende Untersuchungen wie „Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes“ (1763) veröffentlichte, ist nach Ansicht des Kant-Biographen Manfred Kühn vermutlich Mendelssohn, nicht Kant, die dominierende Kraft, welche die Philosophie im deutschen Sprachraum zwischen 1755 und 1785 bestimmte (Kühn, „Kant. A Biography“, 230).

Ludwig Heinrich von Jakob: Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden (1786), Titelblatt
Moses Mendelssohn: Morgenstunden (1785), Titelblatt

Nach dem Erscheinen von Kants „Kritik der reinen Vernunft“ (1781) sollte sich die Situation jedoch grundlegend ändern. Eine neue Epoche der Philosophie hatte begonnen. Mendelssohn blieb dies nicht verborgen. Für ihn war dabei Kants Kritik an den Gottesbeweisen von besonderer Bedeutung. Mendelssohn antwortete auf Kant in den „Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes“ (1785), in denen er u.a. neue Beweise von der Existenz Gottes entwickelte. Kant und seine Schüler, allen voran die Hallenser Philosophen Christian Gottfried Schütz und Ludwig Heinrich von Jakob, waren alarmiert. Sie sahen den zunehmenden Erfolg von Kants kritischer Philosophie durch den berühmten ‚jüdischen Philosophen aus Berlin‘ bedroht (Lewald, „Ein Menschenleben I“ , 99; Altmann, „Die trostvolle Aufklärung“, 136). Binnen kürzester Zeit erschienen mehrere Veröffentlichungen, in denen Kant und seine Mitstreiter Mendelssohns „Morgenstunden“ von vielen Seiten attackierten. Mendelssohn konnte dem nichts mehr entgegensetzen. Er verstarb am 4. Januar 1786 in Berlin. Kant und seine Schüler hatten somit leichtes Spiel und durchschlagenden Erfolg. Nicht nur Mendelssohns Beweise der Existenz Gottes in den „Morgenstunden“, sondern sogar seine Debatte mit Kant und seinen Schülern ist rasch weitgehend in Vergessenheit geraten. Ein Anliegen der philosophiehistorischen Forschung sollte es daher sein, diesem Vergessen entgegenzuwirken.

Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794), Titelblatt

Anhand der Rekonstruktion der Debatte zwischen Mendelssohn sowie Kant, Jakob und Schütz über das Dasein Gottes lässt sich die Bedeutung dieser Auseinandersetzung für die Aufklärung in Deutschland Mitte der 1780er Jahre aufzeigen. Bei meiner Untersuchung der Rezeption von Mendelssohns Philosophie stellte sich zudem heraus, dass Indizien für einen Einfluss Mendelssohns auf Johann Gottlieb Fichte sprechen: Ein Kerngedanke von Mendelssohn besagt, dass neben dem Erkenntnisvermögen und dem voluntativen Vermögen ein drittes Vermögen besteht, und zwar das Billigungsvermögen. Es ist das Vermögen, u.a. die Gefühle des Beifalls und des Missfallens zu besitzen, und es verbindet das Erkenntnisvermögen und das Begehrungsvermögen. Das bedeutet auch, Einsichten werden mithilfe des Billigungsvermögens verglichen, wobei diejenige Einsicht, die im größten Maße Beifall findet, das Begehrungsvermögen zur Tat reizt (Mendelssohn, „Morgenstunden“, 149-152). Fichte greift in §11 seiner „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95)“ (vermutlich) Mendelssohns Lehre vom Billigungsvermögen und den Gefühlen des Beifalls und des Missfallens auf. Sein vorrangiges Ziel ist es dabei, im Rahmen der deduktiven Entwicklung seines philosophischen Systems den konstitutiven Zusammenhang zwischen epistemischen und praktischen Tätigkeiten des Subjekts sowie den Gefühlen des Beifalls und Missfallens zu begründen und zu zeigen, wie diese Gefühle im Subjekt entstehen und für es vorhanden sind. Auch wenn der lange Schatten Kants Mendelssohn nahezu in Vergessenheit geraten ließ, hat Mendelssohn die Philosophie nach Kant in einem nicht unerheblichen Maße beeinflusst. Diese Einflüsse gilt es wieder zu entdecken und dem unglaubwürdigen Vorurteil entgegenzuwirken, Mendelssohn, die „Zierde der deutschen Philosophie“ (Dorsch, „Magazin der Philosophischen und schönen Litteratur“, 352) sei für die nachkantische Philosophie bedeutungslos.

Stefan Lang

Die Erforschung der Rezeption von Mendelssohns Werk stand im Mittelpunkt eines Forschungsaufenthalts des Autors am IZEA, der durch ein von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur finanziertes Stipendium für Aufklärungsforschung  ermöglicht wurde. Dieser Blogbeitrag wurde im Rahmen des vom FWF der Wissenschaftsfonds (Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung) geförderten Projekts des Autors (Projekt-Nummer: M 3018-G) mit dem Titel „Deduktion im Frühidealismus“ verfasst. Die skizzierten Thesen zum Einfluss Mendelssohns auf Fichte sollen zukünftig bei der Durchführung dieses Projekts näher erläutert und begründet werden. Für wichtige Kritik danke ich Jürgen Stolzenberg.

Literatur:
Alexander Altmann: Die trostvolle Aufklärung: Studien zur Metaphysik und politischen Theorie Moses Mendelssohns. Stuttgart-Bad Cannstatt 1982.
Anton Dorsch: Magazin der Philosophischen und schönen Litteratur, ca. Februar/März 1786 (340-352). In: Albert Landau (Hg.): Rezensionen zur Kantischen Philosophie. 1781–87. Albert Landau Verlag Bebra 1991, 290–294, hier: 294.
Immanuel Kant: Briefwechsel. Brief 39. An Moses Mendelssohn. 8. April 1766, in: Kants Werke 10, hg. v. d. Preuß. Akad. d. Wiss., Berlin u. New York. Nachdruck 1969.
Manfred Kühn: Kant. A Biography. Cambridge 2001.
August Lewald: Ein Menschenleben I. Leipzig 1844.
Moses Mendelssohn: Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes (1785). In: Moses Mendelssohn. Metaphysische Schriften. Hamburg 2008.

Bildnachweise:

Moses Mendelssohn: Bayerische Staatsbibliothek München,  Ph.sp. 574-1, Scan 7 (=Titelblatt), urn:nbn:de:bvb:12-bsb10043935-9
Ludwig Heinrich von Jakob: Bayerische Staatsbibliothek München, Ph.sp. 404, Scan 2 (=Titelblatt), urn:nbn:de:bvb:12-bsb10043546-2
Johann Gottlieb Fichte: Die Abbildung der Erstausgabe von J.G. Fichtes „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“ stammt aus dem im Felix Meiner Verlag erschienenen Band: Johann Gottlieb Fichte. Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794), Hamburg 1997, Seite 3.